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100 Tage                

 

 Schweden

 

 

Kontraste

Auf Höhe des Leuchtturms Kalkgrund beginnt das Wasser sich leicht zu kräuseln. Wind kommt auf. Zunächst nur ganz spärlich. Doch dann zunehmend, aus Nordwest. Genau richtig für unseren Segeltörn zu den schwedischen Ostschären und den Ålands, weit oben in der Ostsee. Der Motor verstummt. Die Segel knattern noch kurz im Wind, als sie beim Setzen hin und her schlagen. Und dann tritt Ruhe ein. Nur das Wasser an der Bordwand, das mit dem Bug durchschnitten wurde, erzeugt ein leises angenehmes Fahrgeräusch. Es ist Musik in meinen Ohren.

Durch die Verwirbelung am Heck hinterlassen wir auf der Wasseroberfläche eine weit sichtbare Spur. Das Kielwasser. Auf der Haut spüre ich ein leichtes Prickeln und in den Haaren den Wind. Auch rieche ich das Meer. Eine Mischung aus Salz, Tang und noch etwas Undefinierbarem. Ich bilde mir ein, es sogar zu schmecken, als ich mit der Zungenspitze meine Lippen befeuchte. Es ist nicht unangenehm. Vollbeschäftigung für meine Sinne! Als einzigen Fremdkörper nehmen meine Antennen aus weiter Ferne ein kaum wahrnehmbares, monotones Motorengeräusch auf.

So gelangt selbst bei leichter Brise Seemeile für Seemeile in unser Kielwasser. Ich habe Zeit. Keine Termine. Keine Verpflichtungen. Dafür jede Menge Freiheit. Welch ein Luxus!

Was habe ich eigentlich heute vor einem Jahr gemacht, geht es mir plötzlich durch den Kopf. Es ist Mitte Mai. Wichtige Projektarbeiten standen damals ganz oben auf dem Plan. War tief in meine Arbeit versunken, garniert mit vielen Telefonaten, Terminen, Besprechungen und, und, und... Doch diese Zeit - ständig unter Volldampf - liegt nun hinter mir. Endgültig. Bin froh, den Umbruch so aktiv - aber doch ganz anders - gestalten zu können. Möchte auch nichts aufschieben. Leben im Konjunktiv ist nicht mein Ding. Machen und nicht nur planen, davon reden oder gar verschieben. Diese Gedanken machen mich heute noch glücklicher. Ich bin unterwegs. "On tour", wie ich es gern nenne.

Und was habe ich gestern gemacht und was vor einer Woche? Solange mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, habe ich noch nicht abgeschaltet. Aber ich bin auf gutem Weg, gestehe ich mir ein. Gerade die letzten Tage waren hektisch. Lange Einkaufzettel für den Proviant, Todo-Listen mit unerledigten Dingen. Ist das Boot auch wirklich technisch in Ordnung? Was ist mit Haus und Garten während unserer Abwesenheit in den Sommermonaten? Dies alles fällt nun so nach und nach von mir ab. Doch der Kontrast ist zu stark, um es mit einem Schalterumlegen abzuschütteln.

Der Wind nimmt zu, ich muss reagieren. Wie gut, denn nun bin ich mit meinen Gedanken ganz bei der Sache. Als wir mit dem Büchsenlicht in den Hafen an der Südspitze Langelands einlaufen, fallen mir schon bald die Augen zu. Die Ereignisse sowie eine Überdosis an Sauerstoff hinterlassen ihre Wirkung.


Der nächste Tag beschert uns reichlich Maisonne und Wind, wie für uns bestellt. Mit dem großen bunten Gennaker kommen wir gut voran. Doch im Vergleich zu anderen Fortbewegungsmitteln wirkt es eher entschleunigend statt beschleunigend. Diese Art zu reisen sagt nicht jedem zu. Doch für mich ist es geradezu maßgeschneidert, in dieser schnelllebigen Zeit. Später, im Göta-Kanal, wird es uns noch deutlicher vor Augen geführt, wenn uns sogar die Radler in aller Gemütsruhe überholen. Wenn wir nach mehreren Seetagen und Stationen in der Natur eine größere Stadt, wie Kalmar oder Stockholm, anlaufen, ist der Kontrast extrem groß: Der Verkehr, die vielen Menschen, die Hektik, die ganz normale Lautstärke unserer Zivilisation, die Gerüche, der Müll. Meine Wahrnehmung hat sich verändert, die Sinne sind sensibilisiert, die Antennen reagieren empfindlicher. Jedes Mal fällt es mir wieder schwer, in das zivilisierte Leben einzutauchen.

Das Bordleben bedarf eigentlich keiner großen Umgewöhnung. Nur der Boden unter den Füßen ist nicht mehr ganz so fest. Alles ist gut verstaut, alles an seinem Platz. Das muss so sein, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können. Und das nicht nur, wenn mal ganz plötzlich der Magen knurrt. Doch im Vergleich zu unserer häuslichen Umgebung ist es schon eine gewaltige Herausforderung. Immerhin sind wir den Tausch von komfortablen 150 Quadratmetern gegenüber bescheidenen 15 Quadratmetern Wohnraum eingegangen. Ein Zehntel also nur! Na gut, vielleicht ist es ein bisschen mehr, mit "Sonnenterrasse" und so. So genau lässt sich ein Boot mit den vielen Rundungen auch nicht vermessen.

Anfangs stößt man sich noch hier und da. Besonders beliebt sind dabei die Mittelklampe, der Baum und auch das Schiebeluk zwischen Salon und Cockpit. Es sollte schon auf sein, bevor man durchgeht... Eigentlich wie zu Hause, bei den Türen. Die Kombüse besteht aus einem Zwei-Platten-Herd mit Backofen, Kühlschrank, Spüle, Geschirrschrank und ein paar Schubfächern. Klingt doch ganz ordentlich - oder? Doch die Reihenfolge der Essenszubereitung will stets gut bedacht sein. Schließlich bildet die Kühlschrankklappe gleichzeitig die Arbeitsfläche. Und bei zwei Platten wird es auch schon mal eng, alles warm auf den Tisch zu bekommen. Entsprechende Bordrezepte erleichtern es jedoch.

Unterwegs, bei Schräglage zu kochen, sei nur Fortgeschrittenen empfohlen. Immerhin ist der Herd kardanisch aufgehängt, so dass die Suppe im Topf bleibt. An unserem zweiten Reisetag mache ich davon auch gleich Gebrauch. Und das bei reichlich achterlichem Wind, gedoch im geschützten Småland-Fahrwasser. Schließlich möchte die Crew nach einem langen, anstrengenden Segeltag den Kohldampf bändigen. Auf dem Speiseplan steht heute Estragon-Hähnchen auf Reis. Von wegen Suppe oder Eintopf... Dies gelingt mir auch als wenig talentierter Smutje, sogar bei Schräglage. Als in einer geschützten Bucht der Anker fällt, steht das Essen dampfend auf dem Tisch.

Gemächlich nähern wir uns der Ostküste Schwedens mit ihrem sogenannten Schärengarten. Große Vogelschwärme nutzen ebenfalls den günstigen Wind auf ihrer Route in den Norden. Ich werde neugierig, traue meinen Augen nicht! Erkenne durch das Fernglas Ringelgänse in Formation fliegend, die wir noch einen Monat zuvor auf den saftigen Wiesen Nordfrieslands zu Tausenden beobachtet haben. Später begegnen sie uns wieder, als sie und auch wir das Ziel für diesen Sommer erreicht haben.

Von der Weite des Meeres umgeben, erspähe ich einen schmalen Landstreifen am Horizont. Ein Paradies liegt vor uns, ein Relikt der Eiszeit. Hier werden die Etappen kürzer und die Landgänge intensiver. Die Sinne neu geschärft. Eine Flut an neuen Eindrücken stürzt in dieser einzigarten, faszinierenden Welt auf uns nieder. Jede Insel, jede kleine Schäre hat ihre eigene Besonderheit und häufig auch eine interessante Geschichte. Über der hoch aus dem Meer aufragenden Blå Jungfrun schwebt zum Beispiel ein Mythos, der viele Seefahrer davon abhält, dort anzulanden. Auch wir machen - voller Ehrfurcht - einen großen Bogen um die geheimnisvolle Jungfrau.

Garniert mit vielen Erlebnissen, spontanen Ereignissen und magischen Momenten lassen wir die nächsten 100 Tage in dieser einmalig
schönen, geheimnisvollen Schären- und Inselwelt auf uns wirken. Im Einklang mit der Natur. Wie oft schauen wir gebannt auf

die sich ständig verändernde Wolkenformation. Bewundern fantastische Sonnenuntergänge, die sich wie Feuer im Meer spiegeln.
Teils scheint es unwirklich, wie gemalt. Um die Jahresmitte ist es bis kurz vor Mitternacht noch hell. Schon in wenigen Stunden
taucht am Horizont die Sonne wieder auf. Doch das verpassen wir stets – im Schlaf.
Auch die Pflanzen- und Tierwelt wird uns immer vertrauter, da wir uns meist unter freiem Himmel aufhalten. Auf Tuchfühlung mit der

Natur. Noch im Halbschlaf nehmen wir morgens als erstes die Vogelwelt wahr. Wir genießen die vielen schönen Momente, den

Augenblick. Es fehlt uns nichts - ganz im Gegenteil!


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