Mälaren
Eine Woche Großstadt ist genug? Meist reichen mir schon drei Tage mit den vielen Menschen, dem Lärm, dem Dunst und was da noch so alles dran hängt. Doch in Stockholm erging es mir anders. Hätte gut noch ein, zwei Wochen dranhängen können. Was soll‘s, wollen doch vom Land und den uns noch unbekannten Schären was sehen. Und dann geht es tatsächlich weit ins Landesinnere hinein. Der Mälaren ist der drittgrößte See Schwedens und verfügt somit über ausreichend Bewegungsfreiheit in bester Süßwasserqualität. Bei näherer Betrachtung ist es gar kein See, sondern vielmehr eine große Seenlandschaft mit vielen kleinen und auch größeren Inseln. Viele sind durch Brücken miteinander verbunden. Doch auch die stellen für uns, mit gut 16 Meter Masthöhe, in der Regel kein Hindernis dar. Sofern sie denn beweglich oder aber hoch genug sind.
Die erste Brücke, die Västerhamnbro, haben wir ja bereits vor ein paar Tagen auf dem Weg zum Hafen passiert. Sie ist so hoch, das oberhalb vom Masttop noch einige Meter Platz ist. Die Segel bleiben zunächst noch unten. Gemächlich tuckern wir unserem ersten Tagesziel entgegen. Ingrid wird uns zwei Wochen begleiten. Der Kurs ist grob abgesteckt: Entgegen dem Uhrzeigersinn wollen wir die Seenplatte umrunden und an besonders schönen Stellen einen Halt einlegen.
Nach einer Stunde müssen wir schon das erste Hindernis überwinden. Die Nockebybron, ein gewaltiges Bauwerk. Sie ist die größte Drehbrücke Schwedens. Kurz hinter der Brücke machen wir einen Schlenker in einen kleinen Nebenarm, um Silvias Garten und das dazugehörige königliche Schloss aus der Nähe zu bewundern. 1982 ist sie mit ihrem Mann Carl Gustaf und den Kindern von der Stadt aufs Land, ins Drottningholm gezogen. Meine Damen sind begeistert, ein paar Blicke in das royale „Heiligtum“ erhaschen zu können. Nur widerwillig lassen sie sich zur Decksarbeit überreden. Doch schon bald ist das Groß oben und die Genua ausgerollt. Zur Belohnung gibts Kaffee. Ein leichter Südwest schiebt uns weit in die Bucht bis nach Kungsängen.
Die schwedische Willkommenskultur begegnet uns diesmal in Person von Lars. Im Nachhinein war es wohl auch eine gute Gelegenheit für ihn, seine Malerarbeiten am Vereinsheim zu unterbrechen. Zunächst weist er uns in die Vereinsanlage ein, dann geht er zum Ortsgeschehen über. Nachdem ich 50 Prozent seiner überschwänglichen Darstellung abgezogen habe, komme ich zum Ergebnis: Ziemlich tote Hose hier. Aber genau das möchten wir ja. Das Großstadtleben hatten wir doch gerade erst. Zur Seenplatte erhalten wir wirklich viele gute Tipps von ihm. Musste so ganz nebenbei feststellen, dass ich den Namen des Sees völlig falsch ausspreche. Eine Eselsbrücke hilft, in diesem Fall ist es das Schaf. Also: Zunächst „Määhä...“ und dann den Rest einfach verschlucken. Ist doch ganz einfach: „Määhä-laren“.
Mit guten Ratschlägen im Gepäck ziehen wir weiter. Bei leichtem Westwind lässt es sich gut Segeln. Vorbei an bewaldeten Uferböschungen und saftigen grünen Wiesen zieht es uns in eine der nächsten Buchten hinein. In dem fast leeren Hafen von Hajarö machen wir einen Anlegeversuch. Doch es ist mal wieder zu flach, zumindest im Innenbereich. Eigentlich wollten wir ohnehin gern ankern. Ganz am Ende der Bucht lassen wir das Eisen fallen und bereiten einen gemütlichen Grillabend vor.
Der Salat ist fertig, die Grillkohle glüht und – Petrus stimmt ein Lied an. Ein tiefes Grollen, das klingt nicht gut. Auch die aufziehenden dunklen Wolken sind nicht nach unserem Geschmack. Kaum ist der Anker oben, sind schon die ersten dicken Tropfen unten. Heftige Windböen begleiten uns zum naheliegenden Hafen. Längsseits an die Außenmole, es geht ganz fix. Der Grill köchelt noch. Wie gut, dass der Cobb einen Deckel hat. Und so nutzen wir die kleine Schutzhütte auf der Mole und lassen es uns – mit kleiner Verzögerung – schmecken.
Die Nacht wird unruhig, doch am nächsten Morgen zeigt sich schon wieder die Sonne. Nur das nasse Gras erinnert noch an Petrus Einlage. Gut gestärkt, aber noch etwas müde, hissen wir die Segel. Heute landen wir in Kolarudd. Ja, wir sind noch in Schweden. Wenngleich die Ortsnamen nicht mehr so typisch schwedisch klingen. Umso schöner ist der in die Natur eingebettete Hafen. Von einem traumhaften Sonnenuntergang ganz zu schweigen. Eine Entschädigung für den Tag zuvor. Auf diesem schönen Fleckchen Erde schwinge ich mich aufs Rad und folge dem Flusslauf bis nach Enköping. Das hätte auch mit dem Boot klappen können. Denn in dem idyllischen Örtchen entdecke ich ein paar Boote am langen Steg, im Schatten der Bäume. Ach, Einkaufen wollte ich ja noch. Im Kühlschrank ist Ebbe.
Der Mälaren ist dagegen gut gefüllt – mit Wasser. Es ist sogar relativ warm und sauber obendrein. Bei 19 Grad hält mich nun nichts mehr. Heute wird angebadet. Und Ingrid eifert mir nach. Sundbyholm ist für die Schweden so etwas, wie ein Naherholungsgebiet. Bei den sommerlichen Temperaturen spielt sich das Leben draußen ab. Die langgezogene Badebucht ist gut gefüllt, auf dem penibel sauberen Sandstrand, wie auch im seichten Wasser. Vor der Eisbude eine lange Schlange. Ein gutes Zeichen. Natürlich müssen auch wir die vermeintlich gute Qualität überprüfen. Die Landzunge zwischen Hafen und Strand ist mit diversen kleinen Grillplätzen übersät. Die positive Lebensweise der Schweden wirkt ansteckend. Wir fühlen uns wohl, so mittendrin!
Unser Kurs führt uns weiter Richtung Westen. Ein schmaler verwinkelter Fluss zieht die CHINTA magisch an. Versteckt im Schilfgürtel entdecken wir die Flußmündung. Der Wasserpegel sinkt, mein Adrenalinpegel steigt. Bis nach Torshälla sind es noch zwei Meilen flussaufwärts. Dort gehts dann auch nicht mehr weiter. Es sei denn, wir steigen um ins Schlauchboot. Hier liegt die CHINTA mit dem Bug eingebettet in Seerosen. Ein seltsames, zauberhaftes Bild. Der Abstecher hat sich mal wieder gelohnt und die Pulsfrequenz längst normalisiert.
Bei der Dorfbegehung staune ich, wieviel Geschichte hier spürbar wird. Eine kopfsteingepflasterte Gasse, die Lilla Gang, besteht aus lauter alten ochsenblutroten Holzhäusern. Der Bergströmska Garden wurde zum Museum umfunktioniert. Kaffee und selbstgebackenen Kuchen lassen wir uns dort natürlich nicht entgehen. Bis zur Kirche müssen wir eine steile Anhöhe erklimmen und genießen von dort den Rundumblick weit übers Land. Dann schauen wir noch kurz beim Italiener rein, um Platz und Pizza für das EM-Halbfinalspiel am Abend zu reservieren. Danach durften die Deutschen Fußballer abreisen. Das steht bei uns noch lange nicht an, sind doch erst acht Wochen unterwegs.
Der weibliche Teil unserer Crew verspürt ein Shopping-Defizit. Kein Problem, unweit vom Hafen ist eine Haltestelle. Der Bus fährt direkt in die nächstgrößere Stadt Eskilstuna. Für mich gehts in die entgegengesetzte Richtung. Mit dem Rad klappere ich die angrenzende Halbinsel mit dem schönen Badeort Mälarbaden ab. Natürlich habe ich Badehose und Handtuch dabei. Denn der Name verpflichtet und die sommerlichen Temperaturen verlangen nach Abkühlung.
Bis zum westlichen Ende des Mälarensees ist es nicht mehr weit. Zwei Städte wären da noch von Interesse: Köping und Kungsör. Von Kungsör kann man über ein kleines Flüsschen und einen Kanal den viertgrößten See Schwedens erreichen, den Hjälmare. Doch das erscheint selbst mir zu abenteuerlich. Und so heißt es Kurs Ost, immer schön am südlichen Ufer entlang. Die nächsten Stationen sind ein einziger Traum. Schon von weitem erkennen wir die Hochbrücke von Strängnäs. Und gleich dahinter, in der Bucht an Steuerbord, liegt dann auch dieser malerische Ort.
Im Mittelalter war Strängnäs eine der wichtigsten Städte Schwedens, heute ist sie noch eine der schönsten. Bei herrlichstem Sommerwetter genießen wir zunächst das mediterrane Flair am Hafen. Cafès und Restaurants säumen die langgezogene Promenade. Auffallend viele Cabriolets und Motorräder sind hier unterwegs. Dies ordnet man nicht unbedingt dem 60. Breitengrad zu. Es könnte auch Südfrankreich sein.
Aus dem Cockpit heraus beobachten wir das rege Treiben von Freizeitaktivisten auf der gegenüberliegenden Hafenseite. Andere chillen einfach nur am Strand. Unsere ganze Aufmerksamkeit in diesem schönen Ort gilt vor allem der Altstadt, mit den vielen gut erhaltenen Holzhäusern in der typisch schwedischen Bauweise von damals. Die alte Windmühle von 1855, oberhalb des Hafens, ist das Wahrzeichen der Stadt. Von dort genießen wir einen grandiosen Rundblick. Ein weiteres Symbol stellt die gewaltige Kathedrale, im anderen Ortsteil, dar. Dazwischen kleine, verwinkelte Gassen mit winzigen Holzhäusern aus einer früheren Epoche. Hier, in der „Gamla Stan“, wird die Zeit unwillkürlich zurückgespult. Durch einen schmalen Gang erspähe ich ein gemütliches Hofcafè. Widerstand zwecklos. Sitzen dort in guter Gesellschaft, denn die eifrigen Spatzen freuen sich über die übriggelassenen Kuchenkrümel. Völlig angstfrei nähern sie sich vom Tellerrand ihrer Mahlzeit.
Beim überregional bekannten, ganz speziellen Käseladen, a‘ la Tante Emma, drücke ich mir an dem kleinen Schaufenster die Nase platt. Durch die verschlossene Tür reicht es noch nicht einmal für eine Geruchsprobe. Unverrichteter Dinge geht es schließlich, mit Käse vom Discounter, zurück auf den Sund. Apropro Geruch: Einen lang gehegten Wunsch erfülle ich mir und stoße damit bei meiner Damen-Crew auf eine Mischung von Mitleid und Unverständnis. Beim gut sortierten Discounter habe ich nun endlich mal den „Surstömming“ entdeckt. In der Dose ist er noch harmlos, aber dann... Der eingelegte Hering hat vor der Konservierung bereits einen längeren Gärprozess in Salzlage hinter sich und riecht, gelinde gesagt, sehr intensiv. Ja, faulig und stinkend trifft schon eher zu. Ein Vergleich fällt mir nicht ein. Neben dem Göta-Kanal, in der Tat ein weiterer Scheidungsgrund! Ich lass es drauf ankommen...
Bei der Zubereitung und dem zweifelhaften Genuss halte ich einen „Sicherheitsabstand“ zu meinen Damen ein. „Oh, schmeckt gar nicht mal so schlecht!“ Meine Botschaft weckt doch tatsächlich die Neugierde meiner zart besaiteten Crew. „Na ja, probieren möchten wir schon mal“. In einer Hand die Gabel, in der anderen ‘ne Wäscheklammer für die Nase. Und los gehts. Den Rest der Dose habe ich dann aber doch für mich. Als Zwischenlager dient die Backskiste. Beim Crewwechsel gehört dieser Härtetest ab sofort zur Einstiegzeremonie. Ich nenne es „Äquatortaufe auf Schwedisch...“.
Eine weitere schwedische Spezialität ist die „Prinzesstårta“, benannt nach der Königstochter. Sie ist harmlos, also die Tårta. Äußerliches Erkennungszeichen: Gift-grüne Marzipanhaut. Geschmacksnote: Sehr süß, eben wie die Prinsessin. Nach dieser kulinarischen Einlage kümmern wir uns nun wieder verstärkt um unsere Route. Mit einem Zwischenstopp in Stollarholmen und der versteckten Ankerbucht von Herrestaviken, ein Geheimtipp von unserem persönlichen Guide Lars, kommen wir an der größten Sehenswürdigkeit des Mälaren nicht vorbei. Mit Blick vom Cockpit auf das Schloss Gripsholm haben wir in dem Künstlerort Mariefred einen Top-Liegeplatz.
Das gleichnamige alte Dampfschiff steuert kurz nach uns seinen Heimathafen an. Auf der Schmalspur, an der Pier, wartet schon die dampfbetriebene Museumseisenbahn. Mit ihr geht es ganz beschaulich direkt in die City und bei Bedarf auch weiter über Land. Das alte Bahnhofsgebäude der „Östra Sörmlands Järnväg“, ganz aus Holz, erinnert mich an alte Wildwestfilme. Leise und ganz in Gedanken versunken summe ich „Spiel mir das Lied vom Tod“. Es wird wohl niemand hören.
Einen besonderen Bezug zu Mariefred hatte der Schriftsteller Kurt Tucholsky. In Anerkennung seiner Werke besuchen wir seine Grabstätte.
Mehr über sein Lebenswerk erfahren wir im Schloss. Für eine Besichtigung des bizarren Backsteingebäudes sollte man genügend Zeit einplanen. Sie ist sehr lohnenswert. Erbaut wurde es im 16. Jahrhundert, im Auftrag des damaligen schwedischen König Gustav Vasa. Im ganzen Ort verstreut gibt es außerdem diverse Ausstellungen mit grafischer Kunst. Zwischen Kunst und Geschichte entspannen wir unter den schattenspendenden Bäumen am alten Marktplatz und genießen am Abend den schönen Ausblick vom Cockpit.
Schweren Herzens hissen wir schließlich wieder die Segel, um bei moderatem Südwest den Acht-Meilen-Rückweg aus der tiefen Bucht zu bewältigen. Und dann nehmen wir Kurs auf die berüchtigten Wikinger, die auch ihre Spuren in unserer Heimat hinterlassen haben. In Haithabu, an der Schlei, hatten sie im 9. Jahrhundert ihr Basislager. Die Insel Björkö war damals einer der Rückzugsorte der gefürchteten Krieger. Für eine Nacht schlüpfen wir – zumindest gedanklich – in deren altnordische Kriegsgewänder.
Für die weitere Fortbewegung ziehen wir dann aber doch lieber unsere neuzeitliche CHINTA vor. Bis nach Rastaholmen ist es nur ein Katzensprung. Dass wir auch diesen reizvollen Hafen noch kennenlernen, haben wir ein weiteres Mal unserem Guide Lars zu verdanken. Ein freundlicher, hochaufgeschlossener Hafenmeister weist uns einen geeigneten Platz zu, da er an diesem Tag noch eine ganze Flottille erwartet. Die kleine naturbelassene Insel ist durch einen Steg mit dem Festland verbunden. Natürlich erobern wir sie sofort und entdecken dabei einen Grillplatz vom Feinsten. Nur für uns. Bis spät abends genießen wir Fleischspieße und Maiskolben und – das klingt jetzt sehr kitschig, den Vollmond, der sich zum großen Überfluss an der glatten Wasseroberfläche spiegelt. Als Zugabe wählen wir den mit Lampions ausgeleuchteten Rundweg der kleinen Insel. Das sind die kleinen Erlebnisse, die noch lange nachwirken.
Keinen Tag, auf dieser einzigartigen, wunderschönen Seenplatte Schwedens, wollte ich missen. Die letzten zwei Wochen vergingen wie im Fluge. Nun heißt es Kurs nehmen auf den Södertälje-Kanal. Schwupps, durch die Schleuse und schon haben wir wieder Salzwasser unterm Rumpf. In Södertälje ist Endstation für Ingrid. Von hier nutzt sie die direkte Busanbindung zum Flughafen nach Arlanda. Fünf Stunden später steht unsere Tochter Inga am Bahnsteig. Die Koje auf der CHINTA ist noch warm und auch der „Surstömming“ wartet schon auf sie.