Blaues Band
Es soll Leute geben, die wählen die Route durch den Göta-Kanal nur als Abkürzung von der östlichen, also der zentralen Ostsee, zur westlichen und umgekehrt. Nur um Zeit zu gewinnen. Und genau davon sollte man reichlich mitbringen – nämlich Zeit. Aus genau diesem Grund befahren wir ihn erst jetzt das erste Mal. Denn ein normaler Urlaub reicht mit Hin- und Rückweg nun mal nicht aus. Wie sagte mir doch ein Segler reiferen Alters erst vor einigen Tagen in den Ostschären: „Die Deutschen, die hier segeln, sind entweder Rentner oder Lehrer“.
So haben wir für das „Blaue Band“, wie die Schweden ihre Touristattraktion Nummer 1 liebevoll nennen, mindestens vier Wochen vorgesehen. Ein paar Tage zuvor nehmen wir die Buchung per Internet vor. Das ist sehr einfach und komfortabel, ein Rabatt von fünf Prozent springt außerdem dabei heraus. Bei einer Gebühr von 7.200 Kronen, ein kleiner Lichtblick. Viele sind zunächst erstaunt über den hohen Preis. Doch bei genauer Betrachtung der vielen Dienstleistungen relativiert es sich. Denn, zwischen Mem und Göteborg werden 64 Mal die Schleusentore für uns geöffnet und unzählige Brücken gedreht, geklappt, gerollt, geschwungen oder was auch immer. Egal, ob wir alleine kommen oder im Pulk sind. Mit der Servicekarte haben wir Zugang zu 21 gut ausgestatteten Gasthäfen, einige Kultureinrichtungen sind außerdem im Preis enthalten. Also, bei 30 Tagen Aufenthalt sind es rund 25,- Euro am Tag. Schwamm drüber.
Doch noch liegen wir in Södertälje, knapp 100 Meilen vom Kanal entfernt.
Und es ist hier durchaus sehr reizvoll. Unser neues Crewmitglied Inga akklimatisiert sich noch und auch wir vertreten uns hier gern die Beine.
Die meisten Touristen Schwedens kommen übrigens aus Deutschland.
In und um Södertälje ist der Anteil an ausländischen Mitbürgern besonders hoch. Jeder Siebente ist aus Finnland übergesiedelt. Auch viele Asylsuchende finden schon seit Jahren in diesem fortschrittlichen Land Zuflucht.
Unsere Route führt durch den Södertälje-Kanal, weiter Richtung Süden. Inga freut sich, vor der großen Kanal- und Schleusenpassage, noch einen Teil der Ostschären kennenzulernen. Ein Abstecher in das Bilderbuchstädtchen Trosa bietet sich da geradezu an. Diese Idee hatten offensichtlich nicht nur wir. Die letzten Meilen, bis tief in die Bucht hinein, sind wir in guter Gesellschaft. Erst kurz vor der Flussmündung bergen wir die Segel. Es ist ausreichend Platz an beiden Seiten des Flusses, bis in den Ortskern hinein und auch im vorgelagerten Hafen. Dem Flussverlauf folgen wir später noch zu Fuß bis weit aus dem malerischen Städtchen hinaus. Der Ort ist stark vom Tourismus geprägt. Doch an den vielen alten, gut erhaltenen Holzhäusern erkennt man, dass hier früher Fischer und Handwerker ihr Auskommen hatten.
Auch der nächste Tag bietet uns gute Segelbedingungen für die 40-Meilen-Passage nach Arkösund. Enges, flaches Fahrwasser wechselt sich ab mit offenen Streckenabschnitten. Unsere Crew ist nun gut aufeinander abgestimmt. So wechselt häufiger der Steuermann, die Steuerfrau. Doch ein Auge ist stets auf dem Tiefenmesser. Kurz vorm Einlaufen in unseren heutigen Zielhafen schallt es laut übers Wasser: “Heee – CHINTA“. Ungläubig drehen wir drei den Kopf nach Backbord. Gibts doch gar nicht, ist das nicht die HAPPY HOUR aus Flensburg, mit Honk am Steuerrad?! Im Vorbeifahren tauschen wir uns aus: Woher, wohin? Die letzten Worte werden vom Wind verschluckt.
Im Hafen, noch vor dem Festmachen, dann ein ähnlicher Empfang: „Moin Moin“, klingt es zu uns herüber. Zwei Clubkameraden aus dem Verein sind hier einen Tag zuvor eingelaufen. Am Abend klönen wir noch ausgiebig über die Erlebnisse der letzten Wochen und was demnächst noch so ansteht. Vielleicht trifft man sich nochmal.
Nun trennen uns nur noch 25 Meilen vom berühmt berüchtigten Kanal.
Lange genug haben wir uns darüber Gedanken gemacht. Auch an guten Ratschlägen sollte es nicht fehlen. Sogar von Scheidung war die Rede. Wollen wir da wirklich hin? Die eine oder andere Schleuse haben wir ja bereits kennengelernt. Aber nun, gleich so viele auf einmal. Und wenn du erstmal im Kanal bist, gibts nur noch eine Richtung. Zunächst bergauf und dann wieder runter. Oh, mein Gott, bekomme ich nun etwa weiche Knie?
Wir müssen quasi nur dem Küstenverlauf folgen. Die letzten zehn Meilen führen durch einen Fjord mit einigen Engpässen. Und plötzlich sind wir da, in Mem. Ein neues Abenteuer kann beginnen. Fünf oder sechs Boote haben vor dem kleinen Bootshaus bereits festgemacht. Ganz vorne finden wir noch einen freien Platz. Auffallend große Gelassenheit und Heiterkeit bei den anderen Crews.
Bei der gut gelaunten Studentin, im Schleusenwärterhäuschen, checken wir ein. Sie benötigt lediglich unsere Buchungsnummer und fragt im selben Atemzug, ob es unser erstes Mal sei. „Oh, sieht man mir das an?“ erwidere ich mit gefühlter leichter Röte im Gesicht. Ganz professionell führt sie uns in die Tagesabläufe der nächsten Wochen ein und übergibt uns ganz nebenbei zwei Servicekarten und ein paar informative Unterlagen zum Kanal. Wann wir denn schleusen wollen, ist ihre nächste Frage. „Ach, da sind ja noch ein paar Boote vor uns dran“, bemerke ich lakonisch. „Ne
e, nee, die wollen erst später los und einige bleiben hier noch über Nacht“. Upps – also, dann… Ja, genau – es kann losgehen.
Und schon öffnet sich das Schleusentor. Da habe ich mir ja völlig unnötig Gedanken gemacht, dass ich ja nicht gleich vorne liegen muss. Dort, wo das Wasser einströmt. Bei der ersten Schleuse gibt die kecke Studentin stets Hilfeleistung, danach sollte man es möglichst selbst durchführen, klärt sie uns auf. Erstaunt stellen wir fest, dass Theorie und Praxis, wie sonst so oft im Leben, nicht voneinander abweichen. Alles läuft wie am Schnürchen. Stolz wie Oskar starte ich den Motor, als sich drei Meter über dem Meeresspiegel das vordere Schleusentor öffnet. Jetzt nur noch die Leinen einholen und Inga zurück an Bord. Noch kurz eine Geste des Dankes und dann tuckern wir mit fünf Knoten in die gewünschte Richtung.
Eine halbe Stunde später stehen wir schon vor der nächsten Schleuse. Wie von Geisterhand gesteuert, öffnet sich vor uns das Schleusentor. Mit Vor- und Achterleine bewaffnet springt Inga kurz vor der Schleuse wie eine Gazelle von Bord. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht, erledigt sie ganz professionell an Land ihren Job: Den Palstek der Achterleine um bzw. unter den letzten Ring und den der Vorleine, etwa eine halbe Schiffslänge vor dem Bug, um den Eisenring legen. Fertig. Die Vorleine führt durch einen Block an der vorderen Klampe ganz nach hinten auf die Winsch. Die Achterleine zeigt idealer Weise senkrecht nach oben und wird auf der hinteren Klampe belegt. Beim Fluten der Schleuse muss lediglich die Vorleine über die Winsch nachgeholt werden. Der Abstand zur Schleusenwand lässt sich so ganz gut kontrollieren. Zudem sind beide Seiten mit jeweils fünf Fendern gut geschützt.
Söderköping ist auch schon bald erreicht. Dort wartet die dritte Schleuse am heutigen Tag auf uns. Oben, an beiden Seiten der Schleuse, stehen jede Menge Touris herum, die knipsen, filmen und schlaue Sprüche von sich geben. Warum denke ich gerade jetzt an die Affen im Zoo? Bei den Bedingungen bin ich heilfroh, dass auch diesmal alles gut verläuft. Direkt hinter der Schleuse finden wir ein schönes Plätzchen für die Nacht. Im ganzen Ort pulsiert das Leben. Mitte Juli ist halt Hochsaison in Schweden. Bei dem Kaiserwetter spielt sich alles draußen ab. Vorm Eiscafè hat sich eine endlos lange Schlange gebildet. Unseren ersten erfolgreichen Schleusentag belohnen wir mit einem guten Essen.
Als Frühsport lockt ein langer Aufstieg zum hoch hinaufragenden Ramunderberget, direkt am Kanal. Die Räder stehen einsatzbereit an Deck, mit einem Zeiser am Mast befestigt. Im Kanalmodus bleiben die Räder dort und die Fender stets außenbords, auch während der Fahrt. Sie wirken wie eine aufgeblasene Scheuerleiste. Außerdem liegen noch zwei Reifen eines Rollers einsatzbereit an Deck. Sie schützen den Rumpf unterhalb der Wasserlinie bei Vorsprüngen oder ähnlichen Hindernissen. Außerdem ist ein Heckanker als Notbremse schnell zur Hand. Gelegentlich vergessen wir die Badeleiter während der Fahrt einzuziehen. Denn sie ist quasi im Dauereinsatz.
Der nächste Tag ist weniger entspannend. Bis nach Norsholm, am Roxensee, sind zwölf Schleusen und diverse Brücken zu bewältigen. Ein arbeitsreicher Tag. Nun wird nicht mehr nach Meilen abgerechnet, sondern nach Höhenmetern: 33,3 Meter haben wir am Ende des Tages geschafft. Die Luft wird also dünner. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse. Waren meist mit drei weiteren Booten in der Schleuse. Sind nun gut eingespielt und fühlen uns wie die Profis. Doch jetzt nur nicht gleichgültig werden. Baden, Essen, Walken – so kann es weitergehen.
Vor etwa 60 Jahren wurde der Göta touristisch erschlossen. Häufig winken uns Wanderer und Radfahrer von dem angrenzenden Uferweg zu. Manchmal fahren auch wir schon mal mit dem Rad ein Stück voraus oder schauen uns die letzte Schleuse noch mal an oder wählen einen schönen Rundweg durch blühende Landschaften und verträumte Dörfer.
Im Gegensatz zum Kanal kann man auf den Seen segeln, wenn denn genügend Wind da ist. Rasmus zeigt sich gnädig und schickt uns eine leichte Brise aus Nord. Es reicht für den Vortrieb und sorgt außerdem, zumindest scheinbar, für etwas Abkühlung bei 30 Grad Lufttemperatur. Und zwischendurch nehmen wir immer mal wieder ein wohltuendes Bad. Vier Stunden später befinden wir uns im Schilfgürtel vor Linköping. Durch die flache Stångå tasten wir uns bis zu einem kleinen, versteckten Hafen vor. Die Tiefenanzeige auf der Uhr: 0,0 Meter unterm Kiel. Mein Puls reagiert dennoch normal, denn der Grund besteht aus Schlick. Hier wachsen die Seerosen besonders gut.
Inga schwingt sich aufs Rad, um die Gegebenheiten im drei Kilometer entfernten Ort zu erkunden. Denn, weiterer Besuch ist angekündigt: Ihre Schwestern Christiane und Britta sitzen schon seit einigen Stunden im Zug. Zu unserem Erstaunen gibt es keinerlei Verkehrsanbindungen zu unserem idyllischen Hafen im Schilfgürtel. Die Å führt zwar weiter in die Stadt, doch das Flussbett ist für unseren Tiefgang ungeeignet. Bevor sich die Mücken bei uns gemütlich einrichten, flüchten wir aus dem Naturparadies und sind eine Stunde später in Berg. Inga erledigt die kurze Passage mit dem Rad. Auch unsere Neuankömmlinge haben kein Problem mit einer direkten Anbindung vom Bahnhof.
Nun ist die Happy-Crazy-Family vollzählig. Das hatten wir lange nicht mehr, auf der CHINTA. Zur Begrüßung gibt es Köttbulla mit Kartoffelpü und Preiselbeeren. Willkommen im IKEA-Land. Und ein Skål auf unsere nunmehr fünfköpfige Crew. Die gute Stärkung ist von weiterer Bedeutung, denn am nächsten Tag wartet die Carl-Johan-Schleuse auf einen tatkräftigen Einsatz. Sie hat gleich sieben Stufen, mit jeweils knapp drei Meter Höhenunterschied und ist somit die größte Attraktion des Göta-Kanals. Welch ein Einstieg für unsere Neuen!
Mit einer kleinen Grundlage und einem heißen Kaffee im Magen gehts dann auch schon los. Unmittelbar am Fuße der Schleuse haben wir übernachtet und legen uns nun, am gegenüberliegenden Steg, in Warteposition. Schon bald darauf sind wir in der ersten Schleusenstufe, mit drei weiteren Booten, vertäut. So, wie wir es immer machen. „Never change the running system...“. Angelika und Inga weisen unsere Azubis vorbildlich ein. „Und immer schön die Schwimmweste tragen“, sind schließlich die letzten warnenden Worte. Leichte Ironie schwingt nach. Und dann folgt „Learning by Doing“, sieben Mal in Folge.
Bei der stehenden Hitze, in der Schleuse, komme ich mächtig ins Schwitzen. So wechselt die Winschkurbel schon mal in andere Hände. Ein fantastischer Ausblick über die Schleusenstufen, hinunter auf den Roxen-See, ist der Lohn für unsere Mühe. Die Schleusenpassage benötigt etwa die Dauer eines Fußballspiels, manchmal mit Verlängerung. Nach diesem außergewöhnlichen Erlebnis genehmigen wir uns im oberen Hafenbecken ein zweites ausgiebiges Frühstück.
Der Name Berg macht diesem Ort alle Ehre. Denn gleich im Anschluss dürfen wir noch zwei weitere Male „Fahrstuhlfahren“. Diesmal sind es Doppelschleusen. Und weil es so schön war, folgen hinter der nächsten Biegung noch mal zwei im Doppelpack. Und danach noch jede Menge Brücken. Nur selten müssen wir warten. Klappt gut mit der Fernsteuerung. Parallel zum Motala-Ström ist es besonders hübsch am Kanal. Überhaupt wird es hier nie langweilig. Unterwegs gibt es auch schon mal einen Schnack mit Wegbegleitern. Denn, immer wieder treffen wir dieselben Boote. Mal sind sie einige Schleusen voraus, mal kommen sie einen Tag später oder schleusen mit uns gemeinsam. Also, man kennt sich auf dem Kanal. Nur kein falsches Wort. Hier trifft man sich nicht nur zweimal…
In Borensberg sind nicht genügend Liegeplätze für alle Neuankömmlinge. Eine Studentin bittet uns und drei weitere Boote freundlichst, am Steg vor der Schleuse festzumachen. Kein Problem. So übernachten wir unmittelbar vor dem legendären „Göta-Hotell“, das ein beliebtes Fotomotiv darstellt. Leider verwehren sie uns den Catering Service, sodass wir bei dem anhaltend schönen Wetter auf unseren Grill angewiesen sind.
Eine weitere Besonderheit gibt es zu bestaunen: Die Schleuse wird hier noch von Hand betrieben. Deshalb sind hier ständig zwei Studenten im Einsatz, die, wie vor 150 Jahren, an dem mit langen Holzstangen betriebenen Zahnrad gemächlich im Kreis gehen und somit die Tore öffnen bzw. schließen. Doch häufig werden sie von den Crews unterstützt. Denn uns macht es Spaß, für die beiden „Sklaven“ ist es dagegen, über den ganzen Tag, schon sehr schweißtreibend. Es gibt noch eine weitere manuell betriebene Schleuse dieser Art am Göta-Kanal, alle anderen werden per Knopfdruck bedient.
Mit elektronischer Technik, aber eben auch manuellem Einsatz haben wir nunmehr eine Höhe von 73 Meter erreicht. Soviel fehlt also gar nicht mehr. Die Überquerung des Boren-Sees wird für uns zum Badeerlebnis. Kaum sind die Badeleiter und die lange Schwimmleine mit Rundfender ausgebracht, fliegen die nackten Ärsche über Bord. Bei mäßigem Wind aus wechselten Richtungen kommt die große Genua nur gelegentlich zum Einsatz. Kurz vor der nächsten Schleuse, in der Bucht von Borenshult, legen wir einen letzten Badestopp ein.
Doch dann beobachte ich, dass die nächste Schleusung unmittelbar bevorsteht. Und schon sind die Mädels an Bord und die Leinen samt Badeleiter klariert. Ohne weitere Wartezeit können wir direkt in die Schleuse einfahren. Zuvor stimme ich mich noch kurz mit dem Skipper des Nachbarbootes ab, ob er, wie gewohnt, wieder die Steuerbordseite bevorzugt. Ok, also wie gehabt. Doch erstmals wird uns nun vom Schleusenpersonal ein Platz zugewiesen. Da wir stets an beiden Seiten Leinen und Fender vorbereitet haben, ist es nicht weiter schlimm. Nur mein Landpersonal muss noch schnell von Backbord nach Steuerbord wechseln und dort samt Leinen von Bord. Der andere Skipper ist ähnlich verwirrt wie ich.
Außerdem spüre ich, dass wir noch gedanklich im Bademodus sind. Das Sonnenverdeck habe ich wegen der stehenden Hitze in den Schleusen absichtlich draufgelassen. Doch das nervt schon beim Festmachen, die Sicht ist mir zu stark eingeschränkt. Schneller als sonst schließen die Tore und schon strömt das Wasser ein. Es ist erheblich mehr Druck auf der Vorleine als sonst. Bin verunsichert, werde nervös. Mache mir Gedanken um den Karabinerhaken am vorderen Block. Wenn der jetzt bricht oder aufbiegt… Doch mit steigendem Pegel lässt der Druck nach. Ich wische mir die Schweißperlen von der Stirn.
Mit fünf Kammern ist dies die zweitgrößte Schleuse auf dem Göta. Bevor wir in die nächste Kammer einfahren, nehme ich die blöde Sonnenpersenning weg, prüfe Block und Karabiner und nehme auch noch bei mir eine Feinjustierung vor. Bin nun im Schleusenmodus! Die nächsten vier Stufen verlaufen etwas ruhiger, wenngleich die Strömung deutlich höher ist als bisher, in den anderen Schleusen. Die Logge zeigt beachtliche 6,5 Knoten an, hatte gefühlt mit noch mehr gerechnet. Oben angekommen, verabschiede ich mich artig vom Schleusenwart und wünsche mir im Geheimen eine nette Studentin mit mehr Einfühlungsvermögen.
Bis Motala haben wir noch fünf Brücken und eine Schleuse vor uns. Eine gute Stunde später machen wir dort fest. Vom Liegeplatz haben wir einen fantastischen Blick auf den zweitgrößten See Schwedens, den Vättern. Zur Abwechslung vertreten wir die Beine in einer etwas größeren Stadt.
Marktplatz, Altstadt, Automuseum und vor allem das Platen-Haus ziehen uns magisch an. Nach dem Erbauer Elzar von Platen wurde das Göta-Museum benannt, in dem Entstehung und Entwicklung des größten kulturhistorischen Bauwerks Schwedens nachvollzogen werden kann.
1800 wurde zunächst der Tollhättan-Kanal eröffnet. Zehn Jahre später folgte dann der erste Spatenstich beim Göta-Kanal, nach der Idee von König Gustav Vasa. Der Bau wurde fast ausschließlich in Handarbeit ausgeführt, was für die Gesamtstrecke von 190 km viel Schweiß und Zeit in Anspruch nahm. 1832 wurde er schließlich feierlich eingeweiht. Der Erbauer Platen erlebte dies Großereignis jedoch nicht mehr, er starb drei Jahre zuvor. An vielen Schleusenwänden wurde das Jahr der Erbauung liebevoll eingemeißelt.
Eine schöne Promenade und idyllische Wanderwege entlang der Küste runden unseren Landgang in Motala ab. Auch das seit Wochen anhaltend gute Wetter trägt zur guten Laune unserer Family-Crew bei. Wir hissen die Segel und freuen uns auf den See. Quer übern Vättern sind es knapp 20 Meilen bis Karlsborg, wo der Göta sich weiter durch Wiesen und Wälder windet. Doch es gibt drei Gründe, nicht den kürzesten Weg zu wählen. 1. haben wir Zeit im Gebäck. 2. wollen wir mal wieder ein paar Tage ausgiebig segeln, 3. suchen unsere Girls noch einen Bahnhof. Und der liegt ganz im Süden des Sees.
Den kleinen Umweg von 80 Meilen nehmen wir gern auf uns. Zunächst steuern wir Varstena an. Ein absolutes Muss. Zuvor aber drei Stunden Segeln vom Feinsten. Den Schlossgraben fahren wir ziemlich weit durch und haben Glück, dort einen Liegeplatz zu finden. Der Hafen ist traumhaft, das kleine romantische Städtchen genial. Überall buntes Treiben. Ein Ort zum Verlieben. Varstena kommt auf unsere persönliche Top-10-Liste.
Nach der anhaltenden Wärme der letzten Wochen ist es heute auffallend schwül. Von den Tücken des Vättern-Sees haben wir gehört, wir zollen ihm Respekt. Den Himmel stets im Fokus, segeln wir bei gutem WSW, entlang der Küste, weiter Richtung Süden. Und dann geht es ganz schnell: Der Himmel verdunkelt sich. Segel runter und rein ins Ölzeug. Und schon gehts los. Ein längst überfälliger kräftiger Regenschauer geht über uns nieder. Der Wind bläst kräftig, die Sicht ist nun schlecht, das Wasser kabbelig.
Nach 20 Minuten ist der Spuk vorbei. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch, der Wind weht nun wieder beständiger. Groß und Fock kommen erneut zum Einsatz. Doch eine kurze steile Welle ist geblieben. Irgendwie erscheint sie ungeordnet, wie ein schlecht gepflügtes Feld. Und so segelt es sich nun auch. Bevor wir die Insel Visingsö ansteuern, legen wir einen zweistündigen Zwischenstopp in Hästholmen ein. Erstaunlicher Weise bleiben bei der Überfahrt weitere Überraschungen aus. Bis auf die Anzeige des Tiefenmessers: Stolze 123 Meter, die tiefste Stelle des Vättern, unweit der Insel Visingsö.
Im Gegensatz zur Insel ist der Hafen dort recht unattraktiv und obendrein sehr flach. Doch für eine Nacht behelfen wir uns an der Arbeitspier. Früh morgens weckt uns lautstark die erste Fähre. Von der schönen Insel sehen wir nicht viel. Gegen Mittag haben wir den südlichsten Punkt des Sees erreicht, wir sind in Jönköping. Auch hier, irgendwie abnorme Hafenverhältnisse. Wir entscheiden uns gegen die hässliche Betonmole der Kommune, zugunsten der wenigen, meist sehr flachen Liegeplätze des benachbarten Vereins. Immerhin gibts dort Strom. Später erfahren wir, dass der Platz eigentlich nicht für Gäste sei, wir aber gern ein oder zwei Nächte bleiben dürfen. Der freundliche Schwede überlässt uns sogar einen Schlüssel für Dusche und WC. Mal wieder ein Pluspunkt für die schwedische Willkommenskultur.
In den folgenden zwei Tagen lernen wir eine sympathische Stadt kennen, die von der Größe her mit Flensburg vergleichbar ist. Ein kurzer Kanal verbindet zwei Seen miteinander. Entlang der Uferpromenade gibts jede Menge Aktivitäten, Cafès und Restaurants. Auch die quirlige Innenstadt sprüht viel Lebensqualität aus. Eine Besonderheit der Stadt ist das Streichholzmuseum. Ja, so etwas gibt es wirklich. Hier in Jönköping wurden die Zündhölzer nämlich erfunden. Viele Maschinen der Gründerjahre sowie die Weiterentwicklung ins nächste Jahrhundert sind in dem Originalfabrikgebäude von 1848 zu bestaunen. Überhaupt gab es hier und in der Nachbarstadt Husqvarna großen Erfindergeist.
Zurück zur Realität: Taschentücher raus und ab zum Bahnhof. Christiane wird ihren Urlaub mit Freunden in Frankreich fortsetzen. Wenige Stunden später verabschieden wir Inga und Britta am Bahnsteig, mit dem Ziel Flensburg. Meine Frau bleibt mir treu, trotz „Scheidungskanal“! Na, mal schauen, die Hälfte steht ja noch aus. Auf dem Weg nach Karlsborg lernen wir noch zwei idyllische Häfen kennen, in denen, bis auf eine Ausnahme, nur die schwedische Flagge von den Booten weht. In Swedamshamn und Hjo genießen wir erneut sehr gastfreundschaftliche Gesten der erstaunten Schweden. Denn nur selten taucht in dieser Abgeschiedenheit mal ein Boot aus Deutschland auf.
Der Vättern verabschiedet uns mit einem bösen Gewittergrollen. Schnell die Segel runter und den Motor an. Doch wir waren darauf vorbereitet, das Barometer war in nur kurzer Zeit stark gefallen. So sind wir froh, als die große Festung Karlsborg in Sichtweite kommt. Zur erneuten Eingewöhnung an den Göta, schlüpfen wir bei der nächsten Brückenöffnung mit durch und freuen uns, kurz darauf in einem gut geschützten Hafen zu liegen. Das Gewitter hat sich verzogen, die geschichtsträchtige Festungsanlage gehört zu unserem Landprogramm.
Durch den kleinen Botten-See nähern wir uns Forsvik mit der größten und zugleich ältesten Schleuse des Kanals, sie wurde 1813 als erste erbaut. Nach einem letzten Hub, von 3,50 Meter, sind wir ganz oben am Kanal angekommen. Jetzt nur noch die große, eiserne Klappbrücke und die engste Passage des Götas und dann schwimmen wir schon bald auf dem Viken. Mit 92 Meter über dem Meeresspiegel ist er Schwedens höchster See. Ein Bergsteiger würde, am Gipfel angekommen, nun die Nationale in den Boden rammen.
Das hier beheimatete Dampfschiff, die NORDEVALL II, aus dem Jahre 1832, kreuzt unsere Route. Wir erwidern die freundlichen Grüße der zahlenden Gäste. Unter großer Genua peilen wir in Rauschefahrt die nördlichste Fahrwassertonne an. Auf neuem Kurs bläst uns ein steifer Südwest genau auf die Nase. Schließlich sind wir froh, den kabbeligen See in Tåtorp verlassen zu können. Hohe Tannen säumen hier den Kanal und bieten uns guten Schutz. Es ist, als hätte jemand den Wind abgestellt. Der graue Himmel und die hohen Bäume lassen nur wenig Licht zu uns durchdringen. Eine leicht beklemmende, mystische Atmosphäre umschleicht uns beim Erreichen der handbetriebenen Schleuse in Tåtorp.
Ohne elektronische Unterstützung schließen zwei sportliche Studenten hinter uns die dicken Schleusentore. Ab jetzt geht es nur noch abwärts. Das ist wesentlich entspannter, als aufwärts zu schleusen. Denn das Wasser der Schleusenkammer fliest nun ab, es strömt nicht mehr in großen Mengen hinein. Vor- und Achterleine liegen auf Slip, mit abnehmendem Wasserstand werden sie mitgefiert.
In Vassbacken wirkt schon alles wieder erheblich freundlicher. Der beschauliche kombinierte Hafen und Campingplatz ist gut gefüllt und entsprechend belebt. Hier wird gegrillt, geschnackt, gebadet oder einfach nur gechillt. Uns steht der Sinn nach einer Radtour, diesmal abseits vom Kanal. Bei einbrechender Dunkelheit hapert es ein wenig mit unserem Orientierungssinn. Doch plötzlich taucht er wieder vor uns auf – der Kanal.
Es folgt ein langer Tag mit vielen Brücken und ein paar Schleusen. Erstmals müssen wir auch längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Reichlich Seitenwind erschwert zudem die Schleusenmanöver. In Norrkwarn sind nur wenige Liegeplätze vorhanden. Bei alten „Bekannten“ gehen wir längsseits. Das aufmerksame Servicepersonal bitte uns jedoch, einen anderen Platz einzunehmen, da es sonst für die DIANA am nächsten Morgen zu eng wird. Ein Novum für uns und unsere CHINTA: Wir verholen und machen für die Nacht an einem großen hölzernen Piraten-Spiel-Boot fest. Eifrige Seemannskinder sind nun unsere Nachbarn.
Überhaupt ist hier alles sehr kinderfreundlich und familiengerecht hergerichtet. Eine Miniatur-Anlage des Göta-Kanals mit vielen Brücken, Schleusen, Kirchen und anderen imposanten Gebäuden wird von den Kindern dankend als Spielplatz angenommen. Um die nächste Ecke stehen märchenhafte Baumhäuser, die von Feriengästen bewohnt sind. Astrid Lindgren scheint bei der Architektur beteiligt gewesen zu sein. Nur zwei Meter von unserem Frühstücktisch gleitet am nächsten Morgen die voll besetzte DIANA aus Göteborg an uns vorbei. Ganz behutsam bewegt sie sich in die Schleuse hinein. Es ist Millimeter-Arbeit. Ihr Rumpf ist mit langen Hölzern geschützt.
Bei der nächsten Brückenöffnung, vor unserem Hafen, schlüpfen wir mit durch. Im Vierer-Konvoi passieren wir gemächlich, mit fünf Knoten Reisegeschwindigkeit, diverse nummerierte Markierungssteine. Diese sogenannten Ellensteine tauchen alle 1.000 Ellen (594 Meter) auf. Bei unserem Tempo also alle vier Minuten. So nähern wir uns der Endstation des Götas. Ja, wir staunen selbst, dass schon so viel hinter uns liegt. Doch an diesem Tag müssen wir noch einige Schleusen und Brücken passieren.
Die Brückenbaukunst der Schweden ist phänomenal und sehr vielfältig. Was wir schon alles gesehen haben: Dreh-, Klapp-, Schwing-, Roll-, und natürlich auch feste Brücken. Die Durchfahrtshöhe variiert von knapp einem bis 46 Meter. Hier auf dem Göta werden sie meist fernbedient. Wie von Geisterhand gesteuert, öffnen sie sich häufig schon, wenn sich ein Konvoi nähert. In Töreboda ist dagegen die Zeit stehen geblieben. Dort quert eine kleine handbetriebene Seilzugfähre zur Personenbeförderung unseren Weg. Mit dem Rad haben wir sie bereits in Anspruch genommen.
Kurz vor Sjötorp noch eine Doppelschleuse, mit fast fünf Meter Hub, und eine Klappbrücke und dann machen wir im oberen Gästehafen fest. Hier sind 75 Liegeplätze auf drei Etagen verteilt. Mal was anderes. Viele Boote, die uns in Etappen begleitet haben, treffen wir hier, am Ende des Götas, wieder. Sie können sich wohl noch nicht trennen und verweilen hier noch ein paar Tage. Auch mit der GHOST, aus Stralsund, hatten wir häufig Kontakt. Sie sollte eigentlich schon weiter sein, doch ein Getriebeschaden hält sie hier ein paar Tage fest. Die Werksferien in Schweden erschweren Ersatzteilbeschaffung und Reparatur. Toi-toi-toi, bei uns lief bislang alles rund.
Noch zweimal „Fahrstuhlfahren“ und dann spukt uns die vorerst letzte Schleuse aus. Wir sind im Vänern, dem größten See Schwedens. Er ist elfmal so groß wie der Bodensee. Das gegenüberliegende Ufer kann man nicht sehen, man kann es allenfalls erahnen. Ich wollte es zunächst nicht glauben: Über 20.000 Schären hat die Eiszeit allein in diesem See hinterlassen. Kein Problem, sich hier mehrere Wochen aufzuhalten. Natur pur, hoher Erholungswert und bei dem Fischreichtum muss hier niemand hungern. Über 40 Fischarten haben sich in dem sauberen Süßwasser angesiedelt.
Schweren Herzens ignorieren wir den Norden und segeln Kurs Süd. Die Torsöbrücke bereitet uns mit einer lichten Höhe von 18 Metern keine Probleme. Wenig später erkennen wir auch schon die Silhouette des schönen Städtchen Mariestad. Der hohe rote Dom ragt bis in den Himmel und hält den Kontakt nach oben. Zum wiederholten Mal erleben wir erneut eine sehr gepflegte Altstadt. In der Gamla Stan und der Kyrkogatan scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.
Nein, nach Lidköping wollen wir nicht. Es würde zwar wunderbar in die Kategorie der vielen Ortsnamen passen, die mit „-köping“ enden, doch diese Bucht lassen wir aus. Tatsächlich stolpert man an den Ortsschildern im Süden Schwedens häufig auf diese Endung. Und davor steht dann noch so etwas wie Ny-, Norr-, Söder-, Malm-, En-, Lin-, Jön-, Lid- oder auch gar nichts. Einfach nur Köping; gesprochen „Schöbbing“, wie Kötbullar, also „Schöttbulla“. Da die schwedische Sprache relativ einfach und logisch gestrickt ist, kann man die Bedeutung oft ableiten. Kaufen heißt auf schwedisch „köpa“. Und Köping bedeutet so viel wie Markt. Also, kann man ganz getrost ins „kleine“ Lid-köping oder nach En-köping zum „Ein-kaufen“ fahren.
Doch wir sind noch gut versorgt und machen uns auf den Weg zum Schloss nach Läckö. Zunächst zehn Meilen mit vielen Flachs und dann noch 15 Meilen über freies Gewässer des berüchtigten Vänern. Der steife Südwest ist dabei weniger hilfreich. Die Wasseroberfläche ist ruppig. Für die nächsten Tage ist Sturm und Regen angesagt. Haben früh abgelegt und erreichen gegen Mittag ohne größere Blessuren das Schloss. Aufgrund der Sturmwarnung legen wir uns längsseits an den Steg, mit der Nase in den Wind. Der sehr flache Hafen bereitet uns dabei jedoch mehr Mühe als uns recht ist.
So oder so werden wir hier zwei, drei Tage bleiben, denn wir erwarten mal wieder Besuch. Stephan und Sandy sind mit dem Wohnwagen in Schweden unterwegs. Gleich um die Ecke haben wir einen Campingplatz für sie erspäht. Schon am Nachmittag frischt der Wind ordentlich auf und Petrus öffnet seine Schleusen. In der geschützten Kuchenbude empfangen wir unseren Besuch. Es gibt viel zu erzählen und Gutes zu essen. Skål auf das Wiedersehen.
Die lange Geschichte des Schlosses verinnerlichen wir noch, die dicken Mauern, von außen, ebenfalls. Nach einer Besichtigung steht uns jedoch nicht der Kopf. Der Trichter scheint voll zu sein. Das Bedürfnis an Kultur ist nach den vielen Eindrücken der letzten drei Monate offensichtlich gedeckt. Dann lernen wir den Schlossgeist eben nicht kennen. Basta! Aber die fünf Kilometer durch Wald und Wiesen, ins benachbarte Fischerörtchen Spiken, die scheuen wir nicht. Der frische Wind macht den Kopf wieder frei und sorgt für guten Schlaf.
Als Sturm und Besuch sich verzogen haben, brechen auch wir auf. Zunächst durchqueren wir den Ekens Schärgarten. Die gute Betonnung, in den flachen Windungen, ist dabei sehr hilfreich. Nach gut einer Stunde erreichen wir offenes Gewässer. Groß und Fock hoch und der Motor verstummt. Unser Ziel: Sunnanå, im Dalsland, an der Westseite des Vänern, knapp 20 Meilen voraus. Doch wo bleibt der Wind? Sollte er sich in den letzten Tagen zu sehr verausgabt haben? Im Umkreis sind mehrere Boote auf unserem Kurs, auch die GHOST und die SCHNUPPI III erkennen wir durchs Glas. Einige Unentwegte unter Segel, andere motoren und eine dritte Gruppe wechselt häufiger zwischen beiden Möglichkeiten. Bei anhaltenden zwei Knoten Reisegeschwindigkeit könnte es ein langer, zäher Tag werden. Nun dreht der Wind auch noch, dann ist er mal ganz weg und dann wieder da. Ungeduld macht sich bei mir breit.
Und dann, wie aus dem Nichts, zeigt der berüchtigte Vänern, was er drauf hat. Wind kommt auf, für einen kurzen Moment freue ich mich noch. Doch dann, rasch zunehmend, dreht er genau auf West, uns auf die Nase. Der Himmel verdunkelt sich. Reff ins Groß, Ölzeug an, Positionslampen an und AIS aktiviert. Es wurde höchste Zeit. Sechs Windstärken fegen uns um die Ohren, in Böen mehr. Schnell hat sich eine unangenehme kurze Welle aufgebaut. Starkregen prasselt auf uns hernieder. Die Sichtweite liegt bei nahezu Null. Alle Boote um uns herum sind im Bermudadreieck verschwunden.
Kursänderung auf Süd, wir machen 9 Knoten Fahrt. Welch ein Wahnsinn. Stehe angespannt hinterm Steuerrad. An Plotter und Brille rinnt der Regen herunter. Tropfen bleiben hängen. Dennoch gelingt es mir, die Untiefentonne „Hjortgrundet“ im Plotter als Wegmarkierung zu setzen. Zur Sicherheit checkt mein 1. Offizier die Route auf dem iPad, vom trockenen Kartentisch aus. Die Kommunikation beschränkt sich auf kurze Fragen und Hinweise. Nach Erreichen der Untiefentonne macht sich Erleichterung breit. Die Sicht ist nun wieder besser. Die Bermuda-Boote sind wieder aufgetaucht, sogar die GHOST erkenne ich achteraus. Frachtschiffe ziehen mit beruhigtem Abstand an uns vorbei. Unter dem Schutz der Küste peilen wir nun die Flußmündung der Dalbergså an. Mit Motorkraft folgen wir dem Flußverlauf, etwa 700 Meter bis zum geschützten Hafen.
Kaum zu glauben: Kein bisschen Wind, hier im Flussbett, zwischen Bäumen und Wiesen. Sogar die Sonne zeigt sich mit einem Lächeln. Es riecht nach Kaffee, das Ölzeug kann trocknen. Aber erstmal einen kräftigen Sherry vorweg. Ich nehme meinen tapferen 1. Offizier ganz fest in die Arme. Wir atmen tief durch. So ist es also auf dem Vänern – jedenfalls manchmal. Respekt! Dieser „Nothafen“ mit Bullerbü-Romantik gefällt uns, wir bleiben einen weiteren Tag. Folgendes Schild auf dem angrenzenden Campingplatz lässt auf den Humor der Menschen, hier am Rande des Vänern, schließen: „ Varning! Læsgående pensionärer. Får ej matas“ (Warnung vor freilaufenden Rentnern! Bitte nicht füttern).
Die 25 Meilen bis Vänersborg gestalten sich als versöhnliche Abschiedsvorstellung des Vänern. Bei mäßigem achterlichen Wind müssen wir nur den Küstenverlauf folgen und ein Auge auf die Berufsschifffahrt werfen. Mit dem anderen Auge erblicken wir aus der Entfernung das hoch ansteigende Naturparadies Kinnekulle, in dem auch Rentiere frei umherlaufen.
Die Dalbobron in Vänersborg zeigt die, durch Wasserstand variierende, aktuelle Durchfahrtshöhe an. Wir bekommen grünes Licht und passieren bei 17,60 Meter ohne Brückenöffnung. Vor der Eisenbahnklappbrücke warten wir noch ein Weilchen und dann sehen wir an Backbord auch schon den Hafen für unseren nächsten Zwischenstopp.
Vis à vis zu unserem Liegeplatz erkenne ich Prominenz. Die HIPPOPOTAMUS, mit dem Weltumsegler Sönke Roever, hat sich hierher verirrt. Und dann traue ich ein weiteres Mal meinen Augen nicht: Blauer Stern auf weißem Grund! Nein nicht an unserem Mast. Drei Boote weiter, dort liegt die AKKA. Komisch, kenn‘ ich nicht. Das klärende Gespräch lässt nicht lange auf sich warten. Ein Klubkamerad der Seglervereinigung hat sich in Schweden ein schönes H-Boot 35 gekauft und überführt es nun in die Heimat. So einfach ist es. Wir plauschen noch ein Weilchen.
Und dann geht es auf den, für Frachtschiffe ausgelegten, Trollhättan-Kanal. Unser Restprogramm besteht aus 6 Schleusen- und 12 Brückenpassagen. Die erste Schleuse, die Brinkebergskulles Slusse (klingt das nicht toll…), zeigt uns, mit welchen Dimensionen wir es nun zu tun haben. In die Schleusenkammer passen ein Frachtschiff oder aber um die 30 Sportboote. Der Hub beträgt hier knapp fünf Meter. Wasserzulauf und -ablauf werden über den Boden geregelt, nicht über die seitlichen Tore. Also ein turbulenzfreies, sehr entspanntes Schleusen. Einige halten ihr Boot lediglich mittels Bootshaken in Position. Wir legen, ganz konventionell, die Vorleine auf Slip um einen meist schlecht erreichbaren Poller in der Schleusenwand. Achtern benutze ich einen Schleusenhaken als Armverlängerung für die Leiter an der Schleusenwand.
Diese Schleuse war gut zum Üben, denn in Trollhättan erwartet uns ein Abstieg von 32 Meter in vier Etappen. Der Hub beträgt bis zu 12 Meter (!) je Schleusenkammer, das überragt unseren Dachfirst daheim bei weitem. Dennoch oder gerade deshalb habe ich mich auf Trollhättan besonders gefreut. Hier kann man die Baukunst der Schleusen aus drei Epochen bewundern. Und außerdem, was dort in der Eiszeit geschaffen wurde, hat Vattenfall sich längst zu Nutze gemacht. Aus Wasser wird Strom.
Nach einer kurzen Wartezeit vor der Eisenbahnbrücke, erreichen wir schon bald den Akers Sjö, mit schönen Liegeplätzen, direkt vor der gewaltigen Schleusenanlage. Doch spontan nutze ich das offene Schleusentor und suche uns zwei Haltepunkte an der Backbordseite des 90 Meter langen Beckens. Ein weiteres Boot folgt uns. Dann wird noch kurz der „Fahrschein“ gecheckt und schon gehts los. Völlig geräuschlos und ohne jegliche Turbulenzen senkt sich der Wasserspiegel rasant. Wir merken es kaum; staunen nur über die immer höher werdenden Schleusenwände, die durch die beiderseitigen, hoch hinauf ragenden Felswände, gigantisch wirken. Wie gut, dass wir uns das vorher gar nicht erst angesehen haben. Mein 1. Offizier hätte dann vermutlich den Fußweg gewählt…
In der nächsten Schleusenkammer fühlen wir uns schon wie die Profis. Müssen ja auch nicht viel tun. Lediglich Position halten und wichtig gucken. Denn auch hier ist mal wieder eine Touri-Hochburg. Ständig wird gefilmt und fotografiert. Wir selbst vergessen dies allzu häufig. Nach einer Stunde ist es vollbracht. Am Fuße der alten Schleuse, von 1800, schlagen wir unser Nachtlager auf. Unmittelbar neben uns grasen Ringelgänse. Sind es etwa die von Hallig Oland? Ein Einlaufbier haben wir uns nun wirklich verdient, können aber auch danach die Gänse nicht besser identifizieren.
Schon der erste Fußmarsch ist dermaßen beeindruckend. Alles um uns herum ist so gewaltig. Wir fühlen uns so klein, einschließlich Boot. Eine eigenartige Atmosphäre beschleicht mich, als würde man mich um 10.000 Jahre in die Eiszeit zurück beamen. Abends ist es etwas unheimlich hier, so ganz allein, in der dunklen Nacht. Weitere Boote sind nicht gekommen. Die Gänse schlafen friedlich, wir machen es ihnen nach.
Die Kunst des Schleusenbaus kann man hier bis zum Jahr 1800 zurückverfolgen. Die Frachtschiffe, die über den Trollhättan-Kanal zwischen Vänern und Kattegat pendeln, wurden immer größer. 1844 wurde daher, parallel zur alten Schleuse, ein neuer breiterer Weg durch das unwegsame Gestein geschlagen. Unglaublich, ein paar Jahrzehnte später das gleiche „Spiel“ nochmal. Die heutige Schleusenanlage ist aus dem Jahre 1916 und wurde dann ständig modernisiert. Alle drei Passagen kann man heute noch bewundern.
Bewundernswert ist ebenfalls der ursprüngliche, natürliche Wasserlauf, der längst als Energiequelle genutzt wird. Bei der Firma Vattenfall kommen wir in den Genuss einer Besichtigung des Wasserkraftwerkes mit seinen 12 riesigen Turbinen. Oben von der Brücke bestaunen wir eine weitere Attraktion: Zu bestimmten Zeiten öffnen die Ingenieure die Wehre des angestauten Wassers, das dann ungebändigt in die Tiefe strömt. Trotz schweißtreibendem Aufstieg lasse ich mir die Aussichtplattform, ganz oben auf dem Kopparklinten, nicht entgehen. Der Lohn: ein atemberaubender Blick.
Bis Lilla Edet folgen wir dem Verlauf der Göta Älv. Um es kurz zu machen: Wer dort nicht hält, hat nichts verpasst. Einziger Aufreger des Tages bzw. des Abends ist die Schleusung eines großen Frachters in der Dunkelheit. Zwischen Rumpf und Schleusenwände passen nur wenige Zeitungen. Ob die nächste Schleusenerweiterung wohl bevor steht?
Am nächsten Morgen kommt ein weiterer großer Frachter. Und dann sind wir dran. Unsere letzte Schleuse! Können es kaum glauben. Haben uns doch gerade so gut daran gewöhnt. Mal sehen wie es ohne geht. 6,40 Meter abwärts und dann sind wir auf Ostseeniveau. Doch bis zum Kattegat ist es noch ein ganzes Stück und ein paar Brücken sind auch noch im Weg. Für die 20 Meilen bis nach Kungälv benötigen wir knapp sieben Stunden. Fast ein ganzer Arbeitstag. Doch die Arbeit besteht hauptsächlich aus Warten, vor den Brücken. Auch Bauarbeiten führen schon mal zu Verzögerungen. Sind wohl noch etwas verwöhnt, denn auf dem Göta hatten wir meist Vorrang.
Unser letzter Halt im Kanal bietet noch mal etwas Besonderes: Eine kleine Insel mit einem kurzen Steg, einer großen Burgruine und den dazugehörigen Schafen. Zuviel Natur? Kein Problem! Am anderen Ende der Brücke tobt das Leben. Entlang dem Östra-und dem Vestragatan bewundern wir die vielen liebevoll gepflegten alten Häuser samt Vorgärten. In der endlos langen Ladenzeile laufen wir uns die Füße platt. Ein leicht süßlicher Duft weht uns um die Nase. Zwei Straßenzüge weiter dann des Rätsels Lösung: „Göteborgs Kexfabriken“, der größte Arbeitgeber der Region.
Unser kleines naturbelassenes Paradies wartet auf uns, mit Festung und Schafen. Das Kanalabschiedsessen genießen wir in unserem Cockpit mit Blick in den angrenzenden Schilfgürtel. Weit hinten, am Horizont, grüßt die zweitgrößte Stadt Schwedens, Göteborg, mit rauchenden Schornsteinen. Der Kanal dorthin wird immer breiter, das Ufer ist mit Industrieanlagen bebaut. Straßen- und Schienenverkehr verdichten sich. Es ist laut geworden. Wie gut wir es doch im Göta und in den Schären hatten.
Nach zwei Stunden haben wir auch die letzten vier Brücken passiert. Der Dunst der Großstadt bläst uns ins Gesicht. Zwei Jahre zuvor waren wir bereits hier auf Stipvisite, daher zieht es uns nun direkt in die Westschären. Auch ist es ein erhabenes Gefühl, bei herrlichem Nordwest die Segel zu hissen. Die zauberhafte Insel Vrangö zieht uns schließlich magisch an. Tief atme ich die salzhaltige Luft des Kattegats ein. Das war es also, was mir fehlte…