Hinter den Kulissen
Hier, an der Ostseeküste, muss man schon mal längere Tagesetappen einplanen. Bis zum nächsten Hafen im geschützten Boddengewässer summiert es sich auf über 50 Seemeilen. Im Notfall kann auf halber Strecke auch Darßer Ort angelaufen werden, wenn denn die häufig versandete Zufahrt es zulässt und es tatsächlich notwendig erscheint. Doch ganz offiziell sollten schon gesundheitliche oder technische Probleme vorliegen. Der Hafenmeister freut sich so oder so über gute Tageseinnahmen.
Westliche Winde schieben uns vom Warnemünder Touri-Trubel direkt ins Mückenparadies nach Barhöft. Im wunderschönen Vorpommerschen Nationalpark ist unser Augenmerk ganz auf diese kleinen angriffslustigen Biester ausgerichtet. Hoffentlich haben sie keine gefährlichen Bazillen oder Viren im Gepäck. Auf die Einstiche können wir gut verzichten.
Das Areal der Boddengewässer, Sunde und Haffs nenne ich auch gern „hinter den Kulissen“. Es ist hoch interessant, abwechslungsreich und vor allem naturbelassen. Zudem zieht es die Touristenströme auf die andere Seite des „Theaters“, auf die „großen Bühnen“ von Binz, Zinnowitz und Ahlbeck. Am liebsten mit Logenplatz und freiem Blick aufs Meer. In den vielen „dunklen Gängen“ bzw. flachen und schmalen Fahrwassern, abseits des Trubels, reizt mich dagegen die navigatorische Herausforderung. Da kann man sich auch schon mal verlaufen bzw. verfahren.
Sehr zum Erstaunen unseres Bootsnachbarn satteln wir am nächsten Morgen in der frisch sanierten Hafenanlage nicht die Räder, wie zunächst geplant, sondern bereiten die Flucht nach Zingst vor. „Genau dort befindet sich das Hauptquartier der Pommerschen Stechmücken“, gibt er uns sarkastisch mit auf den Weg.
Vor einigen Jahren haben wir uns schon mal durch das enge Fahrwasser bis tief in den Bodden vorgewagt. Keine Mücken damals. Dafür aber eine ausgeprägte Marienkäferplage. Irgendwas ist immer... Dennoch zieht uns dieses naturbelassene Fleckchen Erde mit seinen engen Gassen und den kleinen reetgedeckten Häusern magisch an.
Und – wir werden belohnt: Keine Mücken, keine Marienkäfer! Dafür schöne Radwege bis zur Hohen Düne und zum Darß. Bewegung tut gut, nach den vielen Sitzeinheiten an Bord. Im kleinen Städtchen Prerow lassen wir uns auf der langen Seebrücke den frischen Ostseewind um die Nase wehen. Draußen, am Ende der Brücke, ist ein Sportboothafen geplant. Als Alternative zu Darßer Ort. Doch Naturschutz und Zweckmäßigkeit konnten bislang nicht in Einklang gebracht werden. Zurück im Ortszentrum bestaunen wir die Vielfalt der liebevoll bemalten Haustüren an den kleinen, alten Gebäuden. Zingst zieht mit außergewöhnlicher Kunst und beeindruckenden Fotoaktionen die Blicke auf sich.
Am Abend setzt leichter Regen ein. Nach der anhaltenden Gut-Wetter-Phase sind wir nicht böse drum. Zumal Mücken das gar nicht mögen. Einen kompletten Regentag verbringen wir am übernächsten Tag in Barth. Sind quasi in unserem gemütlichen Salon in Quarantäne und verschlingen seitenweise Buchstaben. Für die leckere Fischsuppe im Vinetablick verlassen wir jedoch am Abend kurz unser Quartier. Auch das Windjammer-Museum, gleich um die Ecke, wäre ein Besuch wert. Am nächsten Morgen erfahren wir in den Nachrichten von 30 Feuerwehreinsätzen, wegen überfluteter Keller.
Die CHINTA freut sich dagegen über die Säuberungsaktion. So lassen wir unser frisch gewaschenes Boot gemächlich durch die vielen Windungen des gut betonnten Naturreservat Richtung Strelasund treiben. Hunderte Schwäne säumen unseren Weg. Hier finden sie einen reichlich gedeckten Tisch vor. Genau wie die Kraniche, die hier im Frühjahr und Herbst, auf ihrer langen Reise nach Norden bzw. in den Süden, eine ausgiebige Rast einlegen. Auch bei dem Naturschauspiel wäre ich gern einmal dabei.
Weit sichtbar ragen die 123 Meter hohen Pylonen der Rügenbrücke in den Himmel, der wieder seine gewohnte blaue Farbe angenommen hat. Mit den vielen Stahlseilen überragt sie alle anderen Brücken dieser Bauart in Deutschland. Dennoch müssen wir vor der alten, in die Jahre gekommenen Klappbrücke in Stralsund, auf die nächste Öffnung warten. Träge öffnen sich die schweren Bauteile und lassen die alte Verkehrsverbindung zur Ferieninsel Rügen für nahezu 30 Minuten ruhen. Unterdessen wechseln mit uns etwa 100 weitere Boote die Seite. Hinter der nächsten Windung lassen wir uns in den beschaulichen Seitenarm von Neuhof treiben.
Heute ist der 20. Juni, Sommeranfang. Aus den Lautsprechern der angrenzenden Gastronomie weht leise Reggaemusik über die Hafenszene. Die zusammengeflochtenen Rasterlocken des Chefkochs Basti wedeln leicht im Sommerwind. Meine spärlichen Brusthärchen ebenfalls. Beim Anblick der mediterran angerichteten Fischplatte kommt auf der urigen, mit Paletten bestückten Außenterrasse, endgültig Karibikfeeling auf. Und trotz Corona gibt’s reichlich heitere Konversation mit Tischnachbarn und dem gut gelaunten Basti. Ein 56 prozentiger Fischergeist beendet schließlich den längsten Tag des Jahres.
In Meck-Pomm haben die Schulferien begonnen. Schleswig-Holstein folgt eine Woche später. Doch schon seit drei Monaten findet kaum Unterricht statt. Verrückte Zeiten! Die Schweden machen es anders – aber nicht besser. Wegen der hohen Infektionsraten besteht dort auch heute noch eine Einreisewarnung und nach Rückkehr folgen zehn Tage Quarantäne. Wer möchte das schon? So findet der Höhepunkt des Jahres, das Mitsommerfest, in diesem Jahr ohne uns statt. Und bei den Schweden wird im Tal der Tränen wohl auch keine Festtagsstimmung aufkommen.
Das uns gegenüberliegende Naturschutzgebiet Devin erreicht man in wenigen Minuten mit dem Schlauchboot oder nach einer schweißtreibenden Stunde mit dem Rad. Wir treten in die Pedale und erwandern anschließend die tier- und faunareiche Halbinsel. Den vielen Schafsködeln weichen wir geschickt aus. Unser Überraschungsbesuch einer älteren Dame in Devin wird mit Kaffee und Torte und Erinnerungen vergangener Tage belohnt.
Auch werden wir auf unserer Route nach Greifswald weiterhin mit moderatem raumen Wind verwöhnt. In Wieck wird die älteste holländische Klappbrücke dieser Art für uns noch von Hand geöffnet. Freundlichst bedanken wir uns beim Brückenwärter und motoren die letzten zwei Meilen auf der Ryck bis zum stadtnahen Yachtzentrum. Greifswald ist eine junge, dynamische Stadt mit schönen, alten Gemäuern. Und so segeln wir hier auch in diesem Jahr nicht daran vorbei.
Ab Windstärke 5 streckt der Greifswalder Bodden seine Krallen aus. Und die haben wir heute, auf dem Weg in den Peenestrom. Obendrein aus Nordost, also genau auf die Nase. Und das ganz entgegen der Wetterprognose. Da kaum noch Flugzeuge am Himmel sind, fehlen den Experten nun wichtige Daten für ihre Berechnungen. Doch es hat auch was Positives, dem Klima tut es gut.
Eine kleine „Umleitung“, auch sowas gibt es auf dem Wasser, verlängert die ruppige Überfahrt zur nördlichen Ansteuerungstonne von Usedom. Eine flotte Rauschefahrt bis zur Klappbrücke in Wolgast entschädigt die Anstrengungen im rauen Bodden.
Ich traue meinen Augen nicht: Nur wenige Meter von unserem Rastplatz, bei der Schiffswerft Horn, liegt die ASTA, das Flaggschiff der Marineschule Flensburg, zu Überholungsarbeiten. Welch ein Schmuckstück! Ein kurzer Plausch mit den Bootsbauern unterstreicht meine Liebe zu diesen wunderschönen alten Segelbooten. In Erinnerung schwelgend sind meine Gedanken beim einwöchigen Törn vor vielen Jahren auf der WESTWIND, einem 12er der Bundesmarine. Bis zur nächsten Brückenöffnung ist noch Zeit zum Einkaufen, Kaffeetrinken und Chillen.
Ein Traum und längst kein Geheimtipp mehr ist der Naturhafen Krummin, am Ende der gleichnamigen Wiek. Dort gibt es ein täglich wechselndes üppiges Grillangebot und eine moderne Sanitäreinrichtung mit allen Annehmlichkeiten. Hinter einer hohen Weißdornhecke versteckt sich die Naschkatze in einem urgemütlichen naturbelassenen Bauerngarten. Den selbstgebackenen Kuchen lassen wir uns dort nicht entgehen. Pikante kulinarische Leckereien gibt es zwei Straßen weiter, in der Pferdetränke.
Beim morgendlichen Baden werde ich von einem Kormoran mit weit ausgebreiteten Flügeln misstrauisch beäugt. Hoffend auf einen friedlichen Ausgang gebe ich ihm zu verstehen, dass ich meinen Fisch nicht aus seinem Revier beziehe. Mit freiem Blick vom Cockpit, weit hinaus über die Wiek, schmeckt das Frühstück nochmal so gut.
Seit Tagen ist es heiß und schwül. Die 30 wird immer häufiger auf dem Thermometer geknackt. Und irgendwann knallt es dann mal im Karton. Gerade haben wir beim Grillevent auf der gemütlichen Hafenterrasse unsere Sparerips bekommen und sind bei den tief hängenden, schwarzen Wolken vorsorglich damit ins geschützte Zelt gegangen. Da fallen auch schon die ersten dicken Tropfen. Blitz und Donner lassen nicht lange auf sich warten. Menschenmassen flüchten nun ins viel zu kleine Partyzelt. Corona-Regeln scheinen vorübergehend außer Kraft gesetzt. Mit Messer und Gabel verteidigen wir unseren kleinen Stehtisch. Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Das Zelt leert sich, den letzten Bissen spülen wir mit herbem Störtebecker runter und hinterlassen nach Oberlix-Manier einen Haufen abgenagte Knochen.
Ob unsere Sparerips wohl auch von einer dieser Großschlachtereien stammen, die wegen der vielen Coronafälle und weiterer Missstände die Medien mit reichlich Zündstoff füttern? Doch bundesweit ist die Zahl der Neuinfizierten zwischenzeitlich stark zurückgegangen. Weitere Lockerungsmaßnahmen sind geplant. Auch bei unseren Nachbarn in Polen sprechen zumindest die Zahlen die gleiche Sprache. So zeigt der Bug unserer CHINTA im Peenestrom weiter Richtung Süden, zum Stettiner Haff.
Beim Einchecken in Mönkebude habe ich ausnahmsweise mal mein „Schnüffeltuch“ nicht am Hals und werde prompt von der pflichtbewussten Hafenmeisterin abgewiesen. Richtig so – auch, wenn man es hätte anders lösen können. Nur selten treffen wir auf Ignoranten mit „Scheiß-egal-Mentalität“. No risk, no fun...