Das Stettiner Haff
Wir sind gespannt, was uns in der Provinz erwartet. Durch den Kaiserfahrt-Kanal erreichen wir das Stettiner Haff. Im Haff baut sich rasch eine extrem kurze unangenehme Welle auf. Doch heute ist es glatt wie eine Eisfläche. Dafür haben wir eine andere Herausforderung: die flache und schmale Fahrrinne nach Wollin, unser nächstes Ziel. Hier mündet die Dziwna in das Haff und ist in der Seekarte mit nur 1,7 Meter angegeben. Wir lassen es drauf ankommen – und haben Glück. Überall mindestens 3 Meter Wassertiefe! Offensichtlich hat sich Wollin auf Besuch eingestellt und gebaggert – danke! Auch im weiteren Flussverlauf müssen wir genau navigieren und die ausgelegten Tonnen beachten. Wir werden belohnt mit Natur pur. In der Kleinstadt Wollin gehen wir längsseits an die Kaimauer mit der mächtigen Kathedrale im Hintergrund. Hinter den gepflegten parkähnlichen Grünflächen liegt der Ortskern mit vielen klitzekleinen Geschäften. Nicht immer sind sie als solches zu erkennen. An den vielen Marktständen davor herrscht reges Treiben. 90 Prozent der Häuser befinden sich in einem heruntergekommenen baufälligen Zustand. Doch auch hier ist der bevorstehende Umbruch erkennbar. Ganz in der Nähe des abbruchreifen Bahnhofs ist ein größerer nagelneuer Bau mit der Leuchtschrift „NETTO“ bezugsfertig. Dieser erste Discounter wird schon bald das Leben in diesem verträumten Örtchen reichlich durcheinander wirbeln.
Übrigens, von Norden kommend kann Wollin endlang der gleichnamigen Halbinsel auch von kleineren Booten mit einem Tiefgang von max. 1,5 Meter angelaufen werden. Brücke und Hochspannungsleitung erlauben eine Durchgangshöhe von max. 12 Meter. Der kleine Abstecher hat sich gelohnt, doch die Neugierde treibt uns weiter quer über das Haff nach Neuwarp und Altwarp. Beide Orte liegen unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze und haben viel Geschichte aufzuweisen. Wir übernachten in dem kleinen polnischen Dorf Neuwarp. Der sehr freundliche Hafenmeister hilft uns beim Festmachen, Gesprächsstoff gibt es auch genug. Den Einlauf-Sherry (hat er sich verdient) gibt er dankend an seinen Freund weiter, der uns später mit reichlich frischen Fisch für unseren Grillabend versorgt. Bei unserer kleinen Ortsbegehung finden wir zwar keinen Bäcker, dafür aber viel Armut- mein Gott! Für einen Morgenspaziergang legen wir vis a vis im deutschen Altwarp an. Welch ein Unterschied. Hier ticken die Uhren anders, obwohl diese beiden Orte nur zwei km trennen.
Zurück nach Polen und zwar nach Ziegenort bzw. Trzebiez. Ich bleibe lieber bei den deutschen Ortsbezeichnungen. Hier ist eine große staatliche Segelschule angesiedelt, zumindest laut Reiseführer. Zwei größere Hafenbecken stehen uns zur Verfügung. Der Fischfang gibt hier vielen Leuten Arbeit. Die Häuser im Ort, wie überall, grau in grau und seit 50 Jahren nichts dran gemacht. Also rasch weiter und zwar nach Stepnica.
Würde ich es hier nicht erwähnen, bliebe es ein Geheimtipp. Wir legen im Gewerbehafen an, was nicht erlaubt ist. Keine weiteren Schiffe oder Menschen zu sehen, gespensterhafte Stille. Das Tor des umzäunten Geländes lässt mit einem unüberhörbaren Knarren eine Ortsbesichtigung zu. Im angrenzenden Fischereihafen werden eifrig die Reusen für den nächsten Fang vorbereitet und die letzte Fischanlandung verarbeitet. Es stinkt hier wie Hulle und alles ist total verdreckt. Mittendrin gestandene Frauen (mit Kippe im Mundwinkel) und Männer (von leeren Bierflaschen umsäumt). Sie machen schweißtreibend ihren Job. Das kleine Hafenbecken ist sehr flach und somit für tiefgehende Kielboote ungeeignet. Ein paar Straßenzüge weiter stoßen wir in diesem kleinen abgelegenen Ort auf die „City“. Hier herrscht erstaunlicher Weise emsiges Treiben. Wir finden zunehmend Gefallen an diesem verträumten Ort. Doch nun zum Geheimnis. Am Ortsausgang sind wir schnell wieder inmitten unberührter Natur. Wir folgen einem Bachlauf, der sich rasch zunehmend zu einem kleinen Flüsschen entwickelt. Die Überraschung ist groß, als wir hinter der nächsten Windung, wie auf einer Schnur aufgezogen, an die 50 Boote am Ufer des mit Schilf umsäumten Flusses liegen sehen. Sogar ein Segelboot mit etwa 40 Fuß hat sich hierher verirrt. Idylle pur, Seglerherz was willst du mehr! Doch zurück zu unserem Gewerbehafen. Unsere Chinta liegt da noch gut vertäut (wir sind ja auch in Polen). Inzwischen haben sich zwei weitere Segler hier her getraut. Wir erzählen natürlich nichts von unserem Geheimnis und machen uns stattdessen auf den Weg in Richtung Stettin. Nach der kleinen Flussmündung zum verwunschenen Hafen halten wir vergebens Ausschau.
Das 900 Quadratkilometer große und zumeist nur fünf Meter flache Haff liegt nun hinter uns. Wir fahren die relativ breite Oder flussaufwärts und sind begeistert von soviel Natur. Hier ist erstaunlich wenig Betrieb, hatten mit mehr Frachtschiffen gerechnet. Nur die Schnellfähre Stettin – Swinemünde stört dreimal täglich diese friedvolle Atmosphäre. Unser Motor natürlich auch! Häufig schauen wir durchs Fernglas, um Details zu erhaschen. So entdecken wir unter anderem einen Seeadler am Ufer, der sich nicht von der Stelle rührt. Schade eigentlich, die gigantische Spannweite der Flügel von 2,50 Meter hätte er uns gern vorführen können. Die Komorane, die es hier reichlich gibt, zählen nicht zum Freundeskreis der Fischer, denn sie sind bekanntlich die größten Fischräuber. Und nicht nur das. Die Bäume, die sie an der Uferböschung besetzt haben, sind alle kahl. Durch das Kotkonzentrat der Vögel sind sie längst eingegangen. Uns wird es nicht langweilig. Viele Nebenarme und auch ganze Seenplatten machen die Oder zu einem Delta und Naturreservat, das seines gleichen sucht. Nach Norden hin verändert sich das flache Hinterland zunehmend zum Gebirge. Gewaltige Industrieanlagen prägen nun das Landschaftsbild, auch solche, die nicht mehr in Betrieb sind. In Goclaw, ein Vorort von Stettin, legen wir einen Stop ein. In diesem kleinen Sportboothafen herrscht reger Betrieb. Vieler Segler aus dem Berliner Raum machen hier Station um den Mast zu stellen und das Boot für den bevorstehenden Ostseetörn vorzubereiten. Wir sitzen genüsslich bei einem kühlen Bier in der ersten Reihe des „Hafenkinos“.
Auch an den neuen Geräuschpegel haben wir uns, wenn auch widerwillig, schnell gewöhnt. In Goclaw ist die Endstation der Stettiner Straßenbahn. Eine Fahrt mit dieser Straßenbahn, russischer Baukunst, ist ein wahres Erlebnis, das man sich unbedingt gönnen sollte. Mit rasanter Geschwindigkeit erreicht man schon nach kurzer Fahrtzeit das Zentrum der Stadt, wenn man es denn überlebt. In Deutschland würden solche abenteuerlichen Schienenfahrzeuge allenfalls im Museum bestaunt werden. Die Wohnverhältnisse entlang der Straßenbahntzrasse und in den kleinen Gassen sind auch hier erschütternd. Wie gut haben wir es doch zu Hause.